Denn Leistungsträger wie Superstar Rafael Leao, Sandro Tonali oder Pierre Kalulu sind derzeit völlig außer Form.
In allen Mannschaftsteilen herrscht blanke Unsicherheit und Pioli wirkt während den Spielen zu oft ratlos.
Sicher ist: Die "Rossoneri" haben nicht, wie manch schwarz-blauer Stadtrivale unkt, plötzlich das Fußballspielen verlernt. Es ist vielmehr ein Sammelsurium an Unwägbarkeiten, Verletzungen und falschen Entscheidungen, das zum aktuellen Tief geführt hat.
Spiel gegen Sassuolo als Sinnbild der Krise
Dem nicht genug, gesellt sich zu den vielen Fehlern und Pannen auch noch jede Menge Pech, wie im jüngsten Spiel gegen Sassuolo, in dem Milan den Bock unbedingt umstoßen wollte.
Milan begann gefällig und ging nach einem sehenswerten Giroud-Treffer sogar in Führung. Es schien, als könne die Unserie einem Ende zugeführt werden.
Doch geradezu sinnbildlich für die aktuelle Situation wurde der Treffer nach VAR-Studium aberkannt, weil der Franzose mit der rechten Wange (!) im Abseits stand.
Eigentlich eine Szene, wie sie den "Rossoneri" schon oft passiert ist, doch in der aktuellen Situation reichte das, um die ohnehin angeschlagene Truppe früh zu brechen.
Der Rest ist bekannt: Sassuolo nutzte die Abwehrschwächen des Meisters eiskalt aus und gewann am Ende mit 5:2.
Viele Baustellen für Coach Pioli
Zu einer Krise, und die jüngste Unserie hat sich mittlerweile zu einer solchen ausgewachsen, gehören immer mehrere Faktoren.
Milan kämpft in dieser Saison immer wieder mit Personalproblemen, allen voran im Tor: Stammkeeper Mike Maignan fällt bereits seit Mitte September mit einer Muskelverletzung an der Wade aus. Dazu fehlten in den letzten Wochen Schlüsselspieler wie Kapitän Davide Calabria, Simon Kjaer, Theo Hernandez, Ante Rebic und Junior Messias.
Konnte man die zahlreichen Verletzungen zunächst noch kaschieren, geht mit Maignan vor allem jener Mann, welcher im Vorjahr zum Torhüter des Jahres in der Serie A gewählt wurde, gerade in engen Spielen enorm ab.
Sein Backup Ciprian Tatarusanu kann ihn nicht annähernd ersetzen. Freilich: Es wäre nicht fair, die Misere nur am Rumänen festzumachen. Das tut man bei Milan auch intern nicht.
Nur: Dem 36-Jährigen unterlaufen speziell seit dem Re-Start nach der WM zu viele entscheidende Patzer - Gift für eine ohnedies verunsicherte Defensive.
Milan befand sich zwar auf der Suche nach einem passablen Maignan-Ersatz, fand aber keine finanzierbaren Lösungen. Mit Devis Vasquez wurde nur ein weiterer Backup verpflichtet.
Immerhin: Glaubt man italienischen Gazzetten, könnte Maignan in zwei Wochen sein Comeback feiern. Es wäre ein Segen für die Mailänder Hintermannschaft.
In der Abwehr schenkt Pioli dem jungen Kalulu, der im Vorjahr dank starker Leistungen zum Stammspieler aufstieg, weiter das Vertrauen. Dem Franzosen unterliefen in den letzten Spielen aber haarsträubende Fehler, die mehrmals schon zu Gegentoren führten.
Die mangelnden Defensivleistungen sollen damit nicht an einzelnen Spielern festgemacht werden, doch Kalulu eine Pause zu gönnen, würde ihn a) aus der Schusslinie nehmen, ihm b) eine Verschnaufpause verschaffen und c) einen Unsicherheitsfaktor, der sichtlich auf andere abfärbt, ausräumen.
Auch wenn seine Nebenleute momentan keineswegs überperformen: Die Leistungskurve des jungen Franzosen zeigt im Vergleich zu ihnen noch deutlicher nach unten.
Mit Dänemarks Teamkapitän Simon Kjaer hätte man einen mehr als passablen Routinier in der Hinterhand, der längst bewiesen hat, dass er im Gespann mit Fikayo Tomori ein schwer zu überwindendes Defensivbollwerk bilden kann. Ob das überhaupt möglich sein wird, steht aber ebenso in den Sternen: Tomori laboriert an einer Hüftverletzung.
Im Sommer wurde der langjährige Kapitän Alessio Romagnoli abgegeben - ein Schachzug, der dem Klub nun von italienischen Fachmedien als Fehler angelastet wird. Der erfahrene Abwehrmann würde dem Team aktuell sicher gut zu Gesicht stehen.
Dazu kommt, dass man mit Charles de Ketelaere im Sommer einen Spielmacher um 32 Millionen Euro vom FC Brügge holte, um in der Offensive breiter aufgestellt zu sein. Der 21-Jährige konnte in der Modestadt aber bisher nicht Fuß fassen und an seine Leistungen in Belgien anschließen.
Fehlendes Vertrauen und zu wenig Breite in der Spitze
Der größte Faktor aber liegt abseits der personellen Situation, denn betrachtet man die jüngsten Spiele, lässt sich unumwunden sagen: Dieser Mannschaft fehlt jegliches Selbstvertrauen. Die Selbstverständlichkeit, mit der man in der Meistersaison zu Werke ging, fehlt aktuell vollends.
Hoffnung darf den Mailändern jedoch der Umstand machen, dass Coach Pioli in der Vergangenheit schon einmal eine veritable Krise erfolgreich gemanagt hat: Direkt nach seiner Amtsübernahme lag Milan auf dem Boden. Pioli baute das Team wieder auf und machte es zu jenem, das zweieinhalb Jahre später den Scudetto holen sollte.
Tatsache ist, um zur Metapher des Giganten auf tönernen Füßen zurückzukehren, dass es Milan an Breite in der Spitze fehlt. Man ist zu abhängig von einigen, wenigen Schlüsselspielern.
Fallen diese aus oder bringen nicht ihre übliche Leistung, kommt das System schnell ins Wanken. Pioli hat etwa das Offensivspiel auf Milans linker Seite mit Hernandez und Leao sowie Mittelstürmer Giroud zugeschnitten, rechts spielt man mit den "Arbeitstieren" Saelemaekers/Messias und Calabria deutlich defensiver.
Alles steht und fällt mit ihnen. Das ist im Idealfall äußerst erfolgreich, doch bei Ausfällen und Leistungsschwankungen hat Milan im zweiten Regal nicht annähernd diese Qualität lagernd.
Maldini und Massara: Fehler in der Kaderplanung?
Dies zieht sich letztlich durch alle Mannschaftsteile und die vielen Verletzungen, auch bedingt durch die Doppel- und Dreifachbelastung, die man heuer erstmals erfährt, sind im "Longrun" nicht zu kompensieren. Haben sich Pioli und die sportliche Leitung um Paolo Maldini und Frederic Massara verpokert?
Fest steht jedenfalls, dass der Grat zwischen Gedeih und Verderb bei der AC dermaßen schmal ist, dass Pioli nun womöglich Opfer seiner eigenen, zugespitzten Fußballidee wird.
Doch noch ist längst nicht aller Tage Abend: Fraglos befinden sich die Mailänder in der Krise, guter Rat scheint teuer. Stefano Pioli hat sich im Laufe seiner Trainerkarriere aber bereits mehrmals neu erfunden und es ist ihm absolut zuzutrauen, dass ihm dies bei Bedarf ein weiteres Mal gelingt.
Zudem liegt man in der Tabelle immer noch auf Rang fünf (38 Punkte), nur zwei Zähler hinter Stadtrivale Inter Mailand auf Platz zwei (40) und somit voll auf Champions-League-Kurs.
In dieser steht in zwei Wochen das Achtelfinale gegen die Tottenham Hotspurs auf dem Programm. Bis dahin könnte sich der aktuell taumelnde Meister genauso schnell wieder erfangen haben, wie er zuletzt auf den harten Boden der Realität geknallt ist.
Noch davor wartet eine andere große Prüfung auf die “Rossoneri”: Am kommenden Sonntag fiebert die ganze Stadt dem “Derby della Madonnina” gegen Inter entgegen.
Dabei könnte der AC der Umstand zugutekommen, dass Derbys ihre eigenen Gesetze haben. Ein Sieg gegen die “Nerazzurri” wäre also doppelter Balsam auf die aktuell so geschundene Fußballseele der Milanisti und könnte die derzeitige Krise in nur einer Nacht vergessen machen.